Liselotte Kuntner (19.2.1935 Belp, Schweiz - 20.12.2021 Küttigen, Schweiz)
war zeitlebens eine neugierige, willensstarke und wissbegierige Person. Als sie etwa 16 Jahre alt war, beobachtete sie ihren Vater, der wegen Schmerzen und einer Einschränkung des Schultergürtels - mittels eines Flaschenzuges - Hausaufgaben aus der Heilgymnastik zuhause machen musste. Die Behandlung war erfolgreich und dieses Erlebnis hatte den Wunsch in ihr geweckt, Heilgymnastin zu werden. Sie bestand den Eignungstest, doch ihr Vater war mit dieser Berufswahl nicht einverstanden, denn er war der Meinung, dies sei ein «brotloser Beruf».
So besuchte sie die Handelsschule und arbeitete danach ein Jahr lang als Hilfsschwester in einem Spital, denn es war ihr zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass sie gerne in einem pflegerischen Beruf arbeiten wollte. 1953 begann Liselotte Kuntner als 18-jährige dann doch an der Berufsschule für medizinische Gymnastik eine zweijährige Ausbildung.
Nach dem Diplom wurde sie für ein Pflichtjahr der Frauenklinik Bern zugeteilt. Sie empfand es als unangenehmen Lehrplatz, da sie von Geburtshilfe keinerlei Ahnung hatte und völlig unvorbereitet ins kalte Wasser geworfen wurde. Dadurch bekam sie aber bald die Gelegenheit, sich in Paris in der Geburtsvorbereitung ausbilden zu lassen. Die Berner Frauenklinik war die erste Klinik der Schweiz, die für Schwangere eine Abteilung für Schwangerschaftsgymnastik einführte und Geburtsvorbereitungskurse anbot. Und Liselotte arbeitete dort unter heutzutage kaum vorstellbaren Bedingungen. Nach der Sprechstunde musste sie den Boden im Warteraum putzen und mit Decken und Kissen herrichten, damit sie mit den Schwangeren die Übungen durchführen konnte.
Sie arbeitete zu dieser Zeit in Aarau in der Pädiatrie und interessierte sich für die Methoden der amerikanischen Rehabilitation, deshalb ging sie ein paar Monate nach Boston. Zu dieser Zeit herrschte noch Rassentrennung in Amerika. Doch Liselotte hatte keine Berührungsängste zu anderen Kulturen und wagte es sogar, sich hinten in den Bus zu den «People Of Color» zu setzen. Doch das war denen gar nicht recht, dass sich eine Weisse zu ihnen setzt und wechselten ihre Plätze im Bus. Nach ihrem Praktikumsaufenthalt in den Staaten arbeitete sie im Inselspital in Bern auf der inneren Medizin, Chirurgie und Orthopädie.
1958 heiratete sie, nahm den Namen Kuntner-Hirsig an und bekam drei Kinder (1960, 1961 und 1964). Die Familie war ihr sehr wichtig. Sie förderte die Kinder in der Kreativität, Malen und Musik. Doch ein reines Hausfrauenleben wäre für sie niemals in Frage gekommen. Durch ihre eigenen Kinder wurde ihr die pädiatrische Arbeit allmählich immer wichtiger. So führte sie schon bald in der Turnhalle mit den Dorfkindern prophylaktisches Haltungsturnen in Gruppen durch. Auch ihre eigenen Kinder hatten orthopädische Probleme. Zuhause hingen überall Zettel mit Gymnastik- und Turnprogrammen. Dies wiederum wurde von den anderen Familien im Dorf übernommen. So war sie mit ihren Tätigkeiten im Dorf gut verankert und Frauen, mit denen sie früher Geburtsvorbereitungskurse gemacht hatte, schickten ihre Kinder dann zu Liselotte Kuntner ins Haltungsturnen.
Als ihr jüngster Sohn im Alter von 7 Jahren wegen einer Hüftkopf-Nekrose für mehrere Monate zur Heilung liegend im Spital hätte bleiben sollen, setzte sie sich bei den Ärzten durch und konnte mit ihrem Fachwissen Peter zuhause optimal betreuen und pflegen. Dies war auch der Ausschlag, wieder einmal Zeit in eine Zusatzausbildung zu investieren. So konnte sie ihre dort erworbenen Kenntnisse bei der therapeutischen Betreuung ihres Sohnes erfolgreich einsetzen. Kinderheilkunde und Orthopädie rückten nun in den Vordergrund und Liselotte wurde Mitglied einer Kommission des Aargauer Erziehungsdepartement für das Sonderturnen in Schulen und liess sich zur Sonderturnlehrerin ausbilden. Sie war auch ein ausgesprochener Naturmensch, verbrachte gerne Zeit im Garten oder beim Wandern im Jura, den Bergen oder an der Atlantikküste Cornwalls in Grossbritannien.
Bei Nachforschungen zur Geburtshilfe, stiess sie auch auf ethnologische Literatur über Geburten bei Naturvölkern und entdeckte, dass dort vorwiegend in sitzender oder kauernder Stellung geboren wurde. Mit ihren breiten Grundkenntnissen in Anatomie, Physiologie und das Erkennen von Zusammenhängen von Haltung, Bewegung und Atmung als Physiotherapeutin hatte sie die idealen Voraussetzungen, dem Thema Gebärhaltung der Frau auf den Grund zu gehen und darüber zu forschen.
Ab 1978 begann Liselotte Kuntner diverse wissenschaftliche Arbeiten zu Ihrer Forschung über die Gebärhaltung der Frau in medizinischen, ethnomedizinischen und volkskundlichen Zeitschriften zu veröffentlichen. Anfang der 80iger Jahre bildete sie sich in 4 Semestern an der Uni Zürich in Ethnomedizin und am Institut für Tropenhygiene und öffentliches Gesundheitswesen der Uni Heidelberg in kulturvergleichender medizinischer Anthropologie weiter. Eine Studienreise führte sie 1980 dabei ins Hochland von Sri Lanka.
Diese Monographie erschien 1985 unter dem Titel «Die Gebärhaltung der Frau. Schwangerschaft und Geburt aus geschichtlicher, völkerkundlicher und medizinischer Sicht». Es erschienen daraufhin zahlreiche Publikationen, und sie wurde zu Vorträgen und Workshops im In- und Ausland eingeladen. Dank dem Buch entstand auch eine internationale Beziehung in China, wo sie 2 längere Studienaufenthalte in Peking verbrachte.
1987 entwickelte sie zusammen mit den Hebammen Blanca Landheer und Louise Daemen den Maia-Geburtshocker, der auch heutzutage in vielen Gebärzimmern anzutreffen ist. Die logische Folge des Maia Geburtshockers war die Publikation des Buches: «Neue Erkenntnisse und Ansichten über die Gebärhaltung. Der Gebärhocker Maia», welches 2 Jahre später erschien.
Zur selben Zeit erhielt sie einen Lehrauftrag am ethnologischen Seminar der Uni Zürich, wo sie Vorlesungen und Seminare über Geburt und Mutterschaft im Kulturvergleich gab. Es folgten weitere Studienreisen 1990 nach Nicaragua und 1992 nach Kamerun, wo sie sich auch mit der Ethnobotanik, also der Heilpflanzenkunde rund um die Geburtsmedizin von Naturvölkern befasste. In Westafrika, in Kamerun hielt sich Liselotte Kuntner für einen längeren Forschungsaufenthalt auf. Dort hatte sie die Gelegenheit bei zwei traditionellen Geburten dabei zu sein.
Liselotte Kuntner arbeitet auch als Kuratorin von Ausstellungen in verschiedenen Museen im In- und Ausland zum Thema Geburt und Mutterschaft. Ihre wertvolle Sammlung mit Objekten und Fotos aus ihren Feldforschungen waren Bestandteil dieser Ausstellungen.
Während sich andere Menschen dieses Alters so langsam mit der Pensionierung auseinander setzen und sich auf ihren Erfolgen ausruhen, begann Liselotte Kuntner eine Inlandsstudie mit tamilischen Migrantinnen und deren Nutzung von Pflanzen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Aufgrund ihres Fachwissens arbeitete sie dann im Projekt «Feminasana» der CARITAS Aargau mit und unterrichtete in Kursen zur Geburtsvorbereitung für Migrantinnen.
2005, anlässlich ihres 70igsten Geburtstages, wurde sie zum Ehrenmitglied der deutschen Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin AGEM e.V. und 2010 als 1. Ehrenmitglied beim Netzwerk Ethnobiologie Schweiz ernannt. Sie unterrichtete noch bis 2007 an der Fachhochschule für Physiotherapie Aargau in Schinznach-Bad und 2008 und ‘09 am Masterkurs für Hebammen in Krems an der Donau-Universität.
Sie wollte immer über alles die Kontrolle behalten und ein selbstbestimmtes Leben leben.
[Textauszug aus der Trauerrede zu Liselotte Kuntners Beerdigung in Küttigen]